Politikerin und Widerstandskämpferin, 1896 – 1979
Als Eleonore Block, das achte von zehn Kindern, wurde Nora Platiel in ein liberales jüdisches Elternhaus geboren. Die Eltern führten ein Bekleidungsgeschäft, später eine Werbeagentur in Bochum. Mit 16 Jahren verstarb der Vater, weswegen die Tochter die Schule abbrechen musste, um im Familienbetrieb zu helfen. Im Ersten Weltkrieg musste das Geschäft geschlossen werden und sie meldete sich freiwillig zum internationalen Kriegshilfsdienst – als Sekretärin wurde sie nach Rumänien geschickt.
Nach dem Krieg kam sie nach Berlin und arbeitete als Sekretärin bei der Frauenrechtlerin Helene Stöcker. Auf deren Ermutigung holte sie das Abitur nach und begann ein Studium der Rechtspflege und Rechtsphilosophie in Göttingen, wo es seit 1922 Frauen erlaubt war, ein Staatsexamen zu machen. Sie studierte gern bei Leonard Nelson, über den sie den „Internationalen Sozialistischen Kampfbund“ (ISK) kennenlernte, eine kleine, ethisch orientierte sozialistische Gruppe als Nachfolge-Institution des von Albert Einstein unterstützten „Internationalen Jugendbunds“. Der ISK und die Persönlichkeiten, mit denen sie dort in Kontakt kam, sollten in ihrem Leben eine prägende Rolle einnehmen. Ihr Referendariat führte sie zu Rechtsanwalt Erich Lewinski nach Kassel, der ebenfalls ISK-Mitglied war.
Ihre erste Kanzlei eröffnete Eleonore Block in Bochum und erwarb sich einen Namen als Strafverteidigerin in politischen Prozessen. Politik prägte auch ihr Ehrenamt, sie gründete eine Ortsgruppe des ISK in Bochum. Im nationalsozialistischen Deutschland drohte ihr als Jüdin mit politischem Profil daher die Verhaftung. 16 angespannte Jahre im Ausland folgten: zunächst floh sie 1933 ins Exil nach Paris, wo sie sich im Widerstand organisierte, bei Hilfswerken mitarbeitete und für den ISK und für weitere Widerstandsorgane schrieb. Als die deutsche Wehrmacht Frankreich besetzte, wurde Nora Block im Jahr 1940 verhaftet. Eine Flucht aus dem Gefangenenlager gelang, sodass sie mehrere Jahre illegal in Südfrankreich lebte, wo sie Hermann Platiel heiratete. Beide flüchteten in die Schweiz, um dort als Familie zusammen leben zu können – auch Nora Platiels Sohn, der bislang aus Sicherheitsgründen in einem Internat in England gelebt hatte, konnte in die Schweiz geholt werden.
1949 erhielt Nora Platiel eine Stelle als Landgerichtsrätin in Kassel, sodass die Familie sich einen Umzug vorstellen konnte, weil in Kassel auch Bekannte aus der Studienzeit und dem ISK-Engagement lebten. Sie wirkte zunächst in der Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Kassel und konnte 1951 Karriere als erste Landgerichtsdirektorin machen. Als Rednerin war sie in der Öffentlichkeit beliebte Sprecherin auf Kundgebungen bei z.B. gewerkschaftlichen, kulturellen oder frauenrechtlichen Veranstaltungen.
Politisch engagierte sich Nora Platiel für die SPD und gehörte 1954 bis 1966 dem hessischen Landtag an. 1960 erhielt sie als erste Frau den stellvertretenden Fraktionsvorsitz. 1962 kandidierte sie als Landtagspräsidentin: Nur eine Stimme fehlte ihr gegenüber ihrem Mitbewerber – die Gesellschaft und die SPD waren vermutlich nicht bereit für eine jüdische Frau mit einer solchen engagierten und bewegten Biografie.
1966 wurde Nora Platiel mit Hessens höchster Auszeichnung für Wissenschaft und Kunst geehrt, der Goethe-Plakette, die ihr Lebenswerk und kulturelles Engagement würdigt. Ihr Einsatz für die Organisation der Ausstellung „Graphik und Zeichnungen israelischer Künstler“, erweist dies in hervorragender Weise: mit ihr wurden diplomatische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel gefestigt und sie erhielt eine Anerkennungsurkunde der Hebräischen Universität Jerusalems. Zudem ist Nora Platiel Trägerin des großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland und erhielt 1969 die Auszeichnung mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille, das ist die wichtigste politische Auszeichnung des Landes Hessen.
Mit Nora Platiel begegnet eine äußerst bemerkenswerte Frau, die mutig und voller Tatendrang dort engagiert für die Gesellschaft wirkte, wo auch immer sie die widrigen politischen Umstände des 20. Jahrhunderts hinführten. In Kassel ist eine Straße nach ihr benannt, ihr Ehrengrab befindet sich auf dem Hauptfriedhof.
Text: Katrin Juschka
Quellen und weiterführende Informationen:
Hering, Sabine: Art. Platiel, Nora, in: NDB 20 (2001), S. 512f: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118902288.html#ndbcontent (Stand: 16.5.2021).
Schibbe, Laura: Art. Platiel, Nora, in: Hessische Biografie: https://www.lagis-hessen.de/pnd/118902288 (Stand: 16.5.2021).
Schaper, Ralf: Virtuelle Ausstellung zu Nora Platiels Leben und Wirken: https://www.platiel2019.de (Stand: 16.5.2021).